Kommunistische Partei der ArbeiterInnen (Norwegen)

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Feministischer Sozialismus?

Kjersti Ericsson

von Kjersti Ericsson

Originalausgabe


Die Verfasserin dieses Beitrags lebt in Norwegen, wo sie als prominente Linke mit Bindungen zur AKP (Ex-ML), als Schriftstellerin und nicht zuletzt als Kriminologin bekannt ist, die am Osloer Institut für Kriminalistik eine Professur ausübt. Sie hielt diesen Beitrag am 9. Mai 1998 in der Zentralkirche von Oslo als Plenumseinleitung im Rahmen des "Sozialismus-Treffen: Vom Leuchtturm zum Feuerzeug" der Roten Wahlallianz (RV) Norwegens, das vom 8. bis 10. Mai 1998 in Oslo abgehalten wurde. [ - Anmerkungen des Übersetzers wie diese, künftig jeweils in eckigen Klammern - der Übersetzer, künftig: d.Ü.]

1990 erschien in Norwegen ein Buch mit dem Titel I pose og sekk. Framtidsbilder, was sich etwa mit "Auf zwei Hochzeiten. Zukunftsbilder" übersetzen läßt. Das Buch war von zwei Frauenforscherinnen, Beatrice Halsaa und Else Viestad redigiert und von dem kleinen Frauenverlag Emilia in Zusammenarbeit mit dem Projekt Alternativ Framtid herausgegeben worden. Im Rückseitentext findet sich u.a. folgender Satz: "Wir geben uns nicht mit zeitlich kurzgreifenden Perspektiven und abgegrenzten Reformvorschlaügen zufrieden, sondern versuchen, in mehr umfassenden, weitsichtigen und ganzheitlichen Veränderungslinien zu denken."

In diesem Jahr scharte das norwegische "Forum für die Systemdebatte" 1.500 Menschen auf seinem ersten Treffen um sich. Ungefähr zeitgleich wurde das Ergebnis einer Meinungsumfrage veröffentlicht, wonach die Mehrzahl der norwegischen Bevölkerung nicht daran glaubt, daß unser ökonomisches System die Umweltprobleme lösen kann. Ebenfalls in diesem Jahr ist der Wille zur Systemkritik und -debatte in Form einiger Bücher zum Ausdruck gelangt. Finn Gustavsen [Ehemaliger Vorsitzender der Sozialistischen Linkspartei "SV" in Norwegen - d.Ü.] hat zusammen mit anderen das Buch Die wunderbare Welt des Marktes redigiert und die deutsche "Globalisierungsfalle" ist in norwegischer Sprache herausgegeben worden. Wir Revolutionäre sind nicht die einzigen, die die Gefahrensignale wahrgenommen haben.

Jan Myrdal hat den Begriff "Die unnötige Gegenwart" verwendet. Heute stellt sich diese Bezeichnung als zu schwach heraus - jedes Jahr, das von dieser Gegenwart verstreicht ist nicht nur unnötig, sondern eine Bedrohung gegenüber der Zukunft. Freilich handelt es sich um die Gegenwart, die als Endpunkt der Geschichte aufgefasst wird. Der Kapitalismus hat seinen definitiven Sieg errungen, er ist das einzig denkbare Gesellschaftssystem und wird bis in alle Ewigkeit existieren. Gesetzt den Fall, handelt es sich allerdings um einen sonderbaren Herrn des Sieges. Der Kapitalismus hat nicht gesiegt Kraft der Erfüllung der leidenschaftlichsten Träume der Menschen von Gerechtigkeit, Sicherheit und dem guten Leben. Immer mehr Menschen erleben den Kapitalismus, wie er sich jetzt entwickelt, als die wichtigste Bedrohung für diese Träume. Es ist an der Zeit, daß die Systemkritik die Konsequenzen aus ihrer eigenen Einsicht zieht und das Notwendige diskutiert - nämlich Alternativen zum Kapitalismus als Gesellschaftssystem.

Eine inkludierende Debatte

Welche Rolle kann die revolutionäre Bewegung in einer solchen Debatte spielen? Wir haben die Revolution und den Sozialismus in über 30 Jahren diskutiert und sollten etwas dazu beizutragen haben. Aber vielleicht müssen wir uns da von einigen alten schlechten Gewohnheiten trennen.

In den 70er Jahren, als das revolutionäre Profil am ausgeprägtesten war, waren wir sehr damit beschäftigt, die Grenzen zu patroullieren für das, was ein korrektes, marxistisches Verständnis von Sozialismus war. Unter der Bezeichnung Ideologischer Kampf verwarnten wir andere, die eine abweichende und fehlerhafte Auffassung in diesen Fragen vertraten, wir wurden eine Art Meinungspolizei. Ein nicht geringer Anteil dieser Aktivitäten war notwendig für eine Bewegung, die darum stritt innerhalb einer Gesellschaft eine revolutionäre Alternative zu etablieren, in der der Reformismus und die Sozialdemokratie lange eine Monopolstellung gehabt hatten. Aber eine solche Art zu debattieren hatte auch ihre sterilen Seiten. Es kam nicht viel Neues aus diesem Grenzpatroullieren heraus, wir bekamen auch selbst Angst , aus Versehen in die Situation einer Grenzüberschreitung zu geraten. Und wir verprellten Diskussionspartner, die uns wahrscheinlich sowohl einen Nutzen gebracht als auch Freude bereitet hätten, wenn wir auf eine offenere Art und Weise mit ihnen gesprochen hätten.

Laßt mich nur einmal so agieren wie Gro [Gro Harlem Brundtland, ehemalige Regierungschefin Norwegens, Sozialdemokratin mit dem Anspruch "Landesmutter" zu sein - d.Ü.], und mich selbst zitieren: In einem Beitrag auf einer internationalen Konferenz für revolutionäre Frauen sagte ich folgendes:

"Es gibt zwei ungleiche Haltungen die wir gegenüber Feministinnen unterschiedlicher Schattierung einnehmen können. Wir können uns zu dem vortasten, was wir gemeinsam haben müßten, z. B. den Wunsch eine Gesellschaft herzustellen, die frei von Frauenunterdrückung und ökologischen Zerstörungen ist, und uns dazu entschließen, daß wir einen Dialog wertvoll fänden. Dies schließt eine scharfe und pointierte Debatte und klare Meldungen bei Punkten, wo wir der Auffassung sind, daß die anderen sich irren, nicht aus. Oder wir können uns zu dem vortasten, was wir an Uneinigkeiten haben müßten, und feststellen, daß die anderen die Frauenbewegung in eine Sackgasse führen und einen kompromißlosen Kampf gegen sie starten. Ich bin der Auffassung, wir sollten die erstgenannte Haltung einnehmen. Im heutigen Norwegen sind es nicht viele Menschen, die sich selbst als Kommunisten, Sozialisten oder Revolutionäre bezeichnen. Aber es gibt viele Menschen, die zutiefst beunruhigt sind über die Art und Weise, wie der Kapitalismus sich entwickelt, und die einen Bedarf an grundlegenden Veränderungen sehen. Der Widerstand gegen die Mitgliedschaft Norwegens in der EU entsprang u.a. dieser Unruhe. M. E. sollten wir uns an der Debatte beteiligen und den Leuten dort begegnen, wo sie sich befinden". Die gleiche Haltung, so meine ich, sollten wir nicht nur gegenüber Feministinnen, sondern gegenüber Systemkritikern allen Schlags einnehmen.

Was sind nun unsere Stärken als TeilnehmerInnen in dieser Debatte? Es könnte vieles genannt werden, aber ich will mich damit begnügen, auf drei Sachpunkte hinzuweisen:

Ich glaube, daß es entscheidend sein wird, während der weiteren Debatte an diesen drei Punkten festzuhalten. Der Kapitalismus als System muß abgeschafft werden, die herrschende Klasse wird mit allen Mitteln dagegen ankämpfen, und es gibt keinen anderen Weg in die Zukunft als jenen, der sich durch den eigenen Kampf und Bewegung der Unterdrückten, der Mehrheit vollzieht.

Ich glaube auch, daß es wichtig ist, die Diskussion über den Sozialismus mit dem zu verbinden, was vom Volk heute als Problem und Quelle großer Unruhe erlebt wird, sowohl in der Welt als auch in Norwegen. Ich will versuchen dies hier zu tun, und gleichzeitig darauf zu sehen, was der Feminismus in die Diskussion über eine neue Gesellschaft einbringen kann.

Die Umweltkrise

Es existiert ein grundlegender Widerspruch zwischen dem Systemzwang des Kapitalismus, der ein ständiges Wachstum als Voraussetzung der fortgesetzten Existenz des Systems benötigt, und der Lebensumwelt auf der Erde. Ständiges Wachstum beinhaltet einen ständig steigenden Verbrauch von Energie und Materie. Am anderen Ende dieses Vorgangs entsteht Abfall in verschiedenen Formen. Dies hat enorme Umweltprobleme geschaffen, und schafft sie weiterhin. Alle umweltfreundlichen Technologien dieser Welt können diese Spirale nicht außer Kraft setzen, solange der Systemzwang zur Expansion weiterhin existiert. Auch ein weltweit verbreitetes umweltfreundliches Bewußtsein und der Wille zu einem dementsprechend nüchternen Lebensstil bei der Mehrheit der Bevölkerung sind hierzu nicht in der Lage. Die Probleme entstehen nicht in den Köpfen oder den Konsummustern der Leute, sondern in der Produktionssphäre des Kapitals. Dies bedeutet nicht, daß es unwichtig ist, für vernünftige Umweltreformen im/unter dem Kapitalismus zu kämpfen, oder daß wir das Volk nicht dazu auffordern sollten auf persönlichem Niveau umweltbewußt zu agieren. Aber es bedeutet, daß der Kapitalismus durch eine andere Gesellschaftsform ersetzt werden muß, die nicht diesen zwangsmäßigen Impuls zum ständigen Wachstum besitzt.

Das bedeutet schon auch, daß wir Revolutionäre unsere Vorstellungen von der Zukunftsgesellschaft revidieren müssen. Wir haben früher von der Überflußgesellschaft gesprochen, wo alle ihren Bedürfnissen entsprechend versorgt sind. Und da unsere Vorstellungen von unseren Erfahrungen geprägt werden, so haben wir uns die Zukunft vielleicht als einen gewaltigen Supermarkt vorgestellt, wo wir uns gratis versorgen können, um mal ein wenig zu parodieren. So kann es nicht werden. Die Rücksichtnahme auf die Umwelt, kombiniert mit der Notwendigkeit einer gerechten Verteilung zwischen dem, was heute reiche und arme Länder sind, wird eine drastische Neugestaltung unserer heutigen Lebensweise erfordern. Wird das bedeuten, daß der Sozialismus eine karge und spartanische Gesellschaft werden wird? Ich sehe das nicht so. Bedürfnisse sind nicht vorgegeben, sie sind im Großen und Ganzen gesellschaftlich erzeugt worden. Die Zukunftsgesellschaft muß derart organisiert sein, daß sie nicht das Bedürfnis nach ständig neuen materiellen Produkten erzeugt. Dies ist zum Teil eine praktische Frage, die von gesellschaftlicher Planung handelt. Aber sie handelt auch davon, daß die Gesellschaft, in der wir jetzt leben, systematisch menschliche Bedürfnisse zu Waren übersetzt: Das Bedürfnis sich frei, stark und männlich zu fühlen, wird in einen schnellen Sportwagen übersetzt, das Bedürfnis geliebt zu werden, wird in Schlankheitspulver und teure Cremes übersetzt, das Bedürfnis nach Freundschaft und sozialer Sicherheit wird in Markenkleider übersetzt usw. So braucht es nicht zu sein in einer andersartigen Gesellschaft, in der es andere Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung gibt.

Es gibt außerdem Grund daran zu erinnern, daß es der anbrechende Kapitalismus war, der den Puritanismus erfand und das Ideal, wonach der Sinn des Lebens Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit sei, und das jede Minute, die nicht für etwas Nützliches verwendet werde, weggeworfen, um nicht zu sagen eine Sünde sei. Dieser Tage soll ein Führer aus dem Wirtschaftsleben am liebsten als eine Person dargestellt werden, die 15 Stunden rund um die Uhr arbeit. Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte, so finden wir heraus, daß es recht viel Mühe brauchte, die Bevölkerungsmehrheit zu effektiven, disziplinierten Arbeitsmaschinen in der kapitalistischen Produktion umzuformen. Spielen, Feiern, Zusammensein, Umgänglichkeit war ein wichtiger Teil des Lebens der vorkapitalistischen Menschen. Der alte Kalender war voll mit Fest- und Feiertagen, die der Kapitalismus in seinem Eifer nach einer effektiven Nutzung der Zeit getilgt hat.

Vielleicht wird die neue Gesellschaft gar nicht puritanischer und spartanischer, sondern mehr spielend, festfreudiger und reich an vielfältigen Ausdrucksformen des menschlichen Zusammenseins, wenn der Sinn des Lebens nicht mehr im Produzieren ständig neuer Produkte gesucht werden kann, die wir benötigen, um noch mehr zu produzieren.

Da es sich so verhält, daß die wichtigsten Werte einer Gesellschaft, das was an die erste Stelle gesetzt wird, an Männlichkeit gebunden ist, verhält es sich so, daß es das Mannsideal ist, was am stärksten von der kapitalistischen Logik geprägt worden ist. Die schwedischen Ethnologen Jonas Frykman und Orvar Löfgren, die das amüsante Buch Der kultivierte Mensch geschrieben haben, beschreiben das Frauen- und das Mannsideal im bürgerlichen, oscarschen Milieu (die Viktorianische Zeit in Schweden). "Es ist auffällig in welch hohem Maß im oscarschen Milieu die Eigenschaften des Häuslichen zu Eigenschaften der Frauen werden," sagen sie. "Im häuslichen Bereich sollen andere ökonomische und moralische Gesetze gelten als im Erwerbsleben. Das Häusliche steht für das Emotionale, für Liebe, Fürsorge und Schutz, für Wärme, Harmonie und Wohlfühlen. Diese Werte können weder - noch sollen in Geld bemessen werden. Der oscarsche Mann wird von den Bedingungen der Produktionssphäre ausgehend definiert, und sollte rational, effektiv und vorausschauend sein". Diese Ideale sickerten auch in andere Klassen hinunter.

Ich möchte in keinster Weise das begrenzende, viktorianische Frauenideal wiederbeleben und es zu einem Vorbild machen. Ich möchte lediglich daran erinnern, daß die Werte unserer Gesellschaft, die auch wir in unser Selbstbild und unsere Bedürfnisstruktur eingegliedert haben, historisch von einem System erzeugt worden sind, das reif für den Schrottplatz ist. Es ist keine Selbstverständlichkeit, daß Liebe, Fürsorge, Schutz, Wärme, Harmonie und Wohlfühlen in eine kleine Ecke der Gesellschaft verwiesen werden, nämlich die Familie, und von Menschen ohne Macht und Ansehen verwaltet werden sollen. Der Feminismus, der sich eben sowohl mit der historisch geschaffenen Männlichkeit als auch Weiblichkeit beschäftigt hat, kann als eine zusätzliche Mahnung in genau dieser Hinsicht nützlich sein.

Ich sehe spannende Möglichkeiten, nicht nur Versuche, in einer Gesellschaft, die nicht auf der zwangsmäßigen Produktionsspirale und den von ihr geschaffenen psychologischen Strukturen beruht. Aber ich sehe auch Probleme. Eine Zukunftsgesellschaft, die aufgrund von Rücksichtnahme auf die Umwelt von der Möglichkeit abgeschnitten ist, in den Himmel zu wachsen, wird vielleicht größere Herausforderungen an uns stellen als die Zukunftsgesellschaft, die wir uns früher vorgestellt haben. Es kann geschehen, daß einige Widersprüche sich verschärfen werden, und mit anderen Mitteln gelöst werden müssen als mit denjenigen, von denen wir früher dachten, daß sie uns zur Verfügung stünden. Laßt mich ein schlichtes Bildnis verwenden, nämlich den Kampf um den Abwasch. Die einfachste Art und Weise den Widerspruch zwischen einer Frau, die gerne möchte, daß der Mann jeden zweiten Abwasch übernehmen soll, und einem Mann, der dies am liebsten nicht tun möchte, da er wichtigere Dinge zu unternehmen hat, zu lösen, besteht im Kauf einer Geschirrspülmaschine. Der Widerspruch wird durch ein neues Produkt gelöst, durch die Erstattung menschlicher Arbeit mit elektrischer Energie.

Ich betone, daß dies lediglich ein Bildnis ist. Aber es veranschaulicht vielleicht ein Prinzip: Das Lösen sozialer Widersprüche, ob es sich nun um geschlechtsbedingte oder andere handelt, durch neue materielle Produkte und einen höheren Energieverbrauch kann schwierig werden. Die Ungleichheit der Lebensbedingungen zwischen reichen und armen Ländern kann z.B. kaum dadurch aufgehoben werden, daß der armen Länder Energieverbrauch auf unser Niveau angehoben wird, ohne irreparable Schäden an der Umwelt. Es können Möglichkeiten in der Anwendung alternativer Technologie und Energieformen liegen, die ich nicht überblicken kann. Aber diese Möglichkeiten sind nicht grenzenlos. Dies kann schärfere Widersprüche und härtere politische Kämpfe hervorbringen, größere Ansprüche an die Lösungsfindung stellen, die völlig neue Organisations- und Lebensformen beinhalten. Und das unterstreicht in noch größerem Umfang, daß der Kampf, u.a. der Frauenkampf, im Sozialismus weitergeführt wird.

Die Globalisierung

Die Globalisierung der Ökonomie, der zügellose Marktliberalismus. GATT, WTO, MAI. Für die meisten von uns sind dies nicht viel mehr als Buchstaben. Es gibt freilich einige Revolutionäre in Nord-Østerdal, die eine ungemein wichtige, weitsichtige und strategische Arbeit an diesen Fragen leisten [Eine Anspielung auf einige Aktivistinnen und Aktivisten der "Nein zur WTO"- Kampagne, die in der genannten Region Norwegens ihren Wohnsitz haben - d.Ü.]. Sie zählen zu den wenigen in unserem Teil der Welt, die ein ebenso gutes Verständnis davon haben, was dies für Folgen für arme Bauern, Arbeiterschaft und Frauen im Süden mit sich bringt. 1992, 1993 und 1994 protestierten Arbeiterinnnen und Arbeiter in Indien in hunderten von Demonstrationen gegen die Regierungspläne, das Land an die GATT/WTO zu binden, etwas das gegen die Interessen von 80% der Bevölkerung gerichtet war. Die revolutionäre indische Frauenaktivistin Srilata Swaminadhan benennt die Hauptargumente der Demonstrierenden wie folgt:

Eine solche Entwicklung bedroht jetzt die Völker in der ganzen Welt. Und was bedeutet sie für die Zukunftsgesellschaft? Können wir, wenn die Zeit gekommen ist, die ökonomischen Strukturen übernehmen, die von der Globalisierung geschaffen wurden, aber die steuernde Hand des Monopolkapitals durch diejenige der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes ersetzen? Können wir den großen sozialistischen Weltplan erschaffen? Ich habe meine Zweifel, obgleich auch der Sozialismus natürlich seine internationalen Organe, sowohl für Verhandlungen als auch für verbindliche Beschlüsse benötigen wird.

Nach Marx und Engels schuf die Entwicklung der Produktivkräfte in zweierlei Hinsicht die Voraussetzungen für den Sozialismus und den Kommunismus:

Eine konzentrierte und gesellschaftliche Produktion ruft nach einem Plan und einer Steuerung. Ja, das stimmt. Aber ruft eine konzentrierte und gesellschaftliche Produktion nach einer Steuerung durch die Mehrheit? Oder erweist sie sich nicht auf vielfältige Art und Weise als Hindernis dafür, daß die Leute die Kontrolle über ihr eigenes Leben ausüben können? Laßt mich ein Beispiel aus einem Bereich nehmen, das selten in die Debatte über sozialistische Machtverhältnisse einbezogen wird, nämlich die Kloake oder das Abwassersystem:

Mexiko City ist eine der am stärksten verunreinigten Städte der Welt. Fünf Millionen Menschen entledigen sich hier ihrer Fäkalien unter freiem Himmel. Über viele Jahre hinweg haben sie darauf gewartet, daß das Abwassersystem die Unterkünfte und Behausungen ihrer Wohngebiete erreichen sollte. Es ist dort nie angekommen. Es wird dort auch nie ankommen. Die Behörden und Planer schätzten nie Alternativen zum Wasserklosett ab. Auch hatten sie niemals ein Budget, das für den Bau eines Abwasssersystems ausgereicht hätte. Und selbst wenn das Budget ausreichend gewesen wäre, so hätte es doch noch an Wasser gemangelt. Das Wasser im Tal von Mexiko reicht noch nicht einmal für 20 Millionen Menschen aus. Durch die Austrocknung aller umliegenden Gebiete, wird nun das Wasser von 100 Kilometern entfernt transportiert, und dann muß es in eine Höhe von 2400 Metern hinaufgepumpt werden. Ganze 40 % des für die Haushalte zur Verfügung stehenden Wassers werden derzeit an das Abwassersystem vergeudet, um Scheiße zu transportieren.

Es ist Gustavo Esteva [Siehe Literaturliste im Anhang - d.Ü.], der dies erzählt. Ein Teil der Einwohner entwickelte Alternativen zum Wasserklosett. Aber diese Alternativen wurden über viele Jahre hinweg von den Sanitäringenieuren, den Behörden und Planern verfolgt. Esteva erzählt, daß sie ihre Latrinen und ökologischen Toiletten in aller Heimlichkeit benutzen mußten, etwas was sie zu einem Teil des sozialen Kampfes werden ließ. Sowohl von den Rechten als auch von den Linken wurden sie als Reaktionäre angesehen, sie waren gegen den Fortschritt, düstre Hippies, die zum Steinzeitalter zurück wollten. 1985 zerstörte ein Erdbeben die Abwasserleitungen für zwei Millionen Familien, die es nicht länger ohne schaffen konnten, und 150.000 Menschen wurden zu Obdachlosen mitten in der Stadt. Esteva und seine Freunde waren die einzigen, die die notwendige Erfahrung besaßen, auf dieses kollektive Problem schnelle Abhilfe zu schaffen. Von da an wurden die Behörden gezwungen die Verfolgungen einzustellen, sie mußten sogar die alternativen Vorschläge unterstützen. Esteva faßt abschließend zusammen (S.9):

"Durch diese Episode lernten wir viel mehr, als uns günstige und vernünftige sanitäre Regelungen zu schaffen. Wir erkannten schnell, was die Anbindung der eigenen Eingeweide an eine zentralisierte und technokratische Bürokratie zur Folge hat. Wir wußten aus der Vergangenheit, daß das Kloakensystem furchtbar ungerecht war, aggressiv diskriminierend in seinem Verhältnis gegenüber der Mehrheit, ein gnadenloser Erzeuger von Privilegien. Wir wussten nicht, daß es auch ein gefährlich verunreinigendes System ist, eine Methode, die im großen und ganzen hauptsächlich ihre Umgebung zerstört. (...) Durch diese Episode erlernten wir einen neuen Typ des Umgangs untereinander und gegenüber unseren Umgebungen. Wir lernten uns selbst zu wertschätzen, um selbständig Abhilfe für unsere Fehler und Begrenztheiten zu leisten. Unser politischer Kampf radikalisierte sich. In diesem Prozeß begannen wir andere kennenzulernen, die ähnliche Erlebnisse gehabt hatten. Mit ihnen teilten wir eine radikale Kritik der industriellen, standardisierten, technokratischen und zentralisierten Gesellschaft, und eine Triebkraft in Richtung verschiedener Formen selbständiger und gastfreundlicher Lebensformen."Es geht mir mit diesem Beispiel nicht darum, mich zur Vorkämpferin der "Freunde alter Brauchtümer" zu machen. Es geht vielmehr darum zu zeigen, daß die großen, zentralisierten Regelungen auch ihren Preis haben. Esteva und die anderen lernten anläßlich des Erdbebens, was es bedeutet, die "eigenen Eingeweide an eine zentralisierte und technokratische Bürokratie" gebunden zu haben. In unserem Gesellschaftstyp sind nicht nur die Eingeweide, sondern auch die allermeisten Körperteile und Funktionen auf die eine oder andere Art und Weise an eine "zentralisierte und technokratische Bürokratie" gebunden, von der Anbindung an einen sich immer mehr monopolisierenden Markt ganz zu schweigen. Eine konzentrierte und stark gesellschaftlich ausgeprägte Ökonomie bindet und kontrolliert uns. Sie gibt uns eine Reihe von Gütern und Vorteilen, aber entzieht unseren Händen gleichzeitig viel von der Macht über unser eigenes Leben.

Das Kloakensystem in Mexiko kann auch als eine Art Bild für die Auswirkungen der globalisierten Marktwirtschaft gelten: Es bedeutet Raubbau und Umweltschädigung, es schafft Abhängigkeit und Machtlosigkeit, es gibt den Reichen Privilegien und verfolgt die Armen um ihre Lebensformen auszurotten, ohne ihnen Alternativen zu geben.

Ökonomische Konzentration schafft günstige Verhältnisse für Machtkonzentration, für Zentralsteuerung, in kapitalistischer oder planwirtschaftlicher Form. Auch ist es nicht sicher, daß die Großbetriebe, und die großen, zentralisierten Lösungen unter allen Umständen die rationellsten sind. Auf sehr vielen Gebieten ist es fraglich, ob der Großbetrieb notwendigerweise das Beste ist. Eine alternative Organisierung der Gesellschaft muß vielleicht bedeuten, daß ein größerer Teil der Zusammenhänge in kleineren Einheiten erschaffen werden muß, anstelle von in großen, zentralisierten Maßnahmen, die an der Spitze miteinander verbunden werden. Ich sehe mehrere Gründe dafür:

Die Auflösung der alten Ordung in der Arbeitswelt

Es ist die Ordnung der Industriegesellschaft, die sich jetzt in Auflösung befindet. Mit der Ordnung der Industriegesellschaft meine ich eine bestimmte Art und Weise zu produzieren, kombiniert mit einer bestimmten Art und Weise, das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital zu organisieren, entstanden sowohl durch den Kampf der Arbeiterklasse als auch durch den Bedarf des Kapitals nach einer Klassenversöhnung. Diese Ordnung wird jetzt niedergebrochen durch ein symbiotisches Verhältnis zwischen neuer Technologie und der verzweifelten Jagd des Kapitals nach Maximalprofit. Wir sehen dies an:

Ich werde nicht so viel darüber sagen. Andere wissen mehr, und es wird sicherlich noch in Seminaren dieses Treffens aufgegriffen werden. Wir befinden uns jetzt in einem Verteidigungskampf, in dem uns ständig weitere Waffen abgenommen werden. Die Zerstückelung großer, traditioneller Betriebe, entweder in Form des Outsourcing oder der Privatisierung in den öffentlichen Einrichtungen, führt z.B. dazu, daß Leute, die zuvor den selben Arbeitgeber hatten und damit den selben Widersacher im Kampf um Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsverhältnisse, dies nicht mehr haben. Wir müssen uns darum kümmern, uns neue Waffen zu schaffen, uns quer zu neuen und alten Scheidelinien zu organisieren. Hat der Frauenkampf und der Feminismus hierzu etwas beizutragen? Ja, absolut, weil die Interessen der Frauen niemals in irgendwelchen der großen, traditionellen Organisationsformen in der Arbeitswelt und der Politik reflektiert worden sind. Frauen mußten sich quer und im Gegenwind organisieren, um ihre Angelegenheiten voran zubringen. Eine sehr lebenstüchtige und bedeutungsvolle Pflanze, mit Wurzeln sowohl in der Frauenbewegung als auch in verschiedenen Sektoren der Gewerkschaftsbewegung heißt eben gerade so, ["Kvinner på tvers" - d.Ü.] - "Frauen quer".

Was bedeutet nun die Auflösung der alten Ordnung in der Arbeitswelt für die Diskussion über und den Kampf für den Sozialismus? Eines ist sicher: Der Sozialismus wird die großen Industriebetriebe, wo das Kernproletariat stolz durch den Arbeiterrat regieren soll, nicht nochmal aufbauen. Die Visionen müssen an einem anderen Ort gesucht werden. Und vielleicht hat der Feminismus etwas, womit er beitragen kann, einige Quer-Visionen. Für die Frauenbewegung ist es nämlich natürlich gewesen, nicht nur zu fragen "Wie sollen wir die Produktion in der neuen Gesellschaft regeln?", sondern auch "Wie sollen wir die Haus- und Fürsorgearbeit regeln?"

Die Auflösung der alten Ordnung im Familienleben

Damit sind wir bei einem anderen gesellschaftlichen Verhältnis angelangt, das heute Probleme und Unruhe bei den Leuten erzeugt, nämlich: Die Auflösung der alten Ordnung im Familienleben mit klarer geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und Ehe, die solange währte, bis der Tod die Ehepartner schied.

Viele Menschen, insbesondere Frauen, sind froh darüber, daß jene Ordnung aufgebrochen ist. Aber es sollte lieber nicht unterschlagen werden, daß es auch Probleme gibt, nicht zuletzt in Form dessen, was "Zeitdruck" genannt worden ist, mit einem hektischen Arbeitstag für Eltern mit Kindern, sowohl für eine doppelt arbeitende Mutter als auch für einen überstundenarbeitenden Vater, der gleichzeitig mit der Forderung konfrontiert wird, auf eine andere Art und Weise als frühere Vätergenerationen dies gewesen sind, eine Fürsorgeperson für seine Kinder zu sein. Oft haben Frauen auch ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Kindern. Wir werden zornig, wenn Valgerd [Valgerd Svarstad Haugland ist Mitglied der "Christlichen Volkspartei" KRF, und sitzt in der norwegischen Regierung als Ministerin für Bildung und Kirche, sie ist die Hauptfürsprecherin für die Einführung der kontantstøtte, s.u. - d.Ü] laut verkündet, daß die Kinder den Preis für die Frauenbefreiung bezahlt haben. Aber ganz im Innersten haben wir ein wenig Angst, daß es wahr ist.

Womit soll der Sozialismus die alte Ordnung im Familienleben erstatten? Nun ist unser Familienideal nicht so sehr alt. Ich habe vorhin Frykman und Löfgren zitiert, die die oskarsche Frau beschrieben haben, voll von Liebe und Fürsorge, lieber passiv als aktiv. Der karrierebewußte Homo oeconomicus, der von ökonomischen Zweckmäßigkeitserwägungen geleitete Mann, wurde der zarten femina domestica, der Hausfrau entgegengestellt.

Diese "neue" Mutter, die es als ihre Berufung ansah, "ein Zuhause zu erbauen" wurde nach und nach auch ein Ziel für die Arbeiterklasse. Die Gewerkschaftsbewegung und die sozialistische Bewegung der meisten entwickelten Industrieländer hatten schon von den 1840er-Jahren an die Forderung nach "einem Familienlohn von dem sich leben läßt" erhoben, schreibt Peder Martin Lysestøl. Die knochenharte Ausbeutung in den Fabriken von sowohl Männern, Frauen als auch Kindern, bedrohte die Existenz der Arbeiterfamilien. Angesichts solcher Verhältnisse, sah auch Marx die Arbeit der Arbeitermütter außerhalb des Hauses als eine tödliche Bedrohung gegenüber den Kindern an. Im Kapital verweist er auf eine offizielle ärztliche Untersuchung von 1861, die nachwies, daß die hohe Kindersterblichkeit in erster Linie der außerhäuslichen Beschäftigung der Mütter geschuldet sei. Dies führte zur Vernachlässigung der Kinder. Dazu die (un-) natürliche "Entfremdung der Mütter gegen ihre Kinder, im Gefolge davon absichtliche Aushungerung und Vergiftung"/.../"... die Mütter in erschreckendem Außmaß die natürlichen Regungen gegenüber ihren Sprößlingen verlieren - ..." (1983, Bd. I, Teil 4, S. 136).

Die Forderung nach Verbesserungen für die Arbeiterklasse nahm das bürgerliche Familienideal als vorbildhaftes Modell. Auch die Arbeiterkinder benötigten Zuhause eine Mutter. Der bekannte sozialdemokratische Pionier Carl Jeppesen beschrieb 1909 in der Frauenverbandszeitschrift "Kvinden", wie die Not die Frauen dazu zwang, Lohnarbeit anzunehmen: "und wenn die Hausfrau aus dem Zuhause, die Mutter von ihren Kindern genommen wird, dann hat das Familienleben und die Kindererziehung ihre beste Stütze verloren." Im selben Artikel heißt es, daß "Nichts in der Welt sollte unlöslicher miteinander verbunden sein, als das Zuhause und die Frau" (zit. n. Haavet, 1991).

Eines der Seminare dieser RV-Konferenz hat den Titel: "Von Kollontay zur kontantstøtte" erhalten. [kontantstøtte = Einmalige Unterstützungszahlung in bar, von umgerechnet ca. 8.000 DM, die in Norwegen denjenigen Eltern, d.h. i.d.R. Müttern, ein- bis zweijähriger Kinder ausgezahlt werden soll, die sich im Gegenzug dazu verpflichten, ihre den Anspruch begründenden Kinder künftig nicht in einem Kindergarten unterzubringen, der mit staatlichen Mitteln gefördert wird. Diese Regelung wird von vielen Linken Norwegens als der vielleicht größte Angriff auf die Frauen seit dem Kriegsende/Befreiung von der deutschen Besatzungsmacht angesehen - d.Ü.] Wie sah also das Familienideal in der Sowjetunion aus? Alexandra Kollontay hat eine Vorlesungsreihe von der Sverdlov-Universität hinterlassen, in der sie in enthusiastischen Formulierungen "den großen Fortschritt" beschreibt, nämlich daß das "Familienleben im Begriff sei, als Lebensnorm ausgedient zu haben". "Die Trennung der Küche von der Ehe" sei eine große Reform, und in der Geschichte der Frauen mindestens ebenso wichtig, wie die Trennung von Kirche und Staat, schreibt Kollontay. Wenn keiner der Partner irgendeinen ökonomischen Vorteil aus dem Zustand des Verheiratetseins mehr ziehen könne, so meint sie, werde die Ehe verschwinden und durch mehr kurze Liebesverhältnisse ersetzt werden.

Es findet sich keine übermäßige Glorifizierung der "sozialistischen Familie" im Zitierten. Aber es gibt auch Gesichtspunkte in Kollontays Vorlesungen, die wohl mit der späteren Auffassung des Sowjetstaates über die Rolle der Frauen zusammenhängen. "Die Arbeiterrepublik wendet sich an die Frau, vor allem in ihrer Eigenschaft als Arbeitskraft und lebende Produktionseinheit," schreibt sie. Mit dem Letztgenannten meint sie eine Gebärmaschine. Das Ziel von Kollontays Familienpolitik besteht in der Freistellung der Frauen zum Zwecke der Arbeit in der Produktion, und in der Sicherstellung ihrer Gesundheit, damit sie ihre Pflichten gegenüber der Gemeinschaft erfüllen können, indem sie gesunde und lebenstüchtige Kinder gebären und stillen. Für die Kindererziehung hingegen, sei es am vernünftigsten, wenn das Kollektiv sich ihrer annehme. Aus dieser Perspektive erscheint die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern auch nicht als eine wichtige Zielsetzung:

"In der Periode der Diktatur des Proletariats ist es für das Proletariat weniger aktuell denn je, sich der Forderung des bürgerlichen Feminismus nach der Gleichstellung der Frau als abstraktem Prinzip anzuschließen. Eine vernünftige staatliche Planung muß vielmehr die besonderern physischen und psychischen Eigenheiten der Frau in ihre Berechnung miteinbeziehen, und die unterschiedlichen Arbeitsbereiche auf diejenige Weise zwischen den Geschlechtern aufteilen, die am besten zum gemeinsamen Ziel hinführt.

Die Zielsetzung der Arbeiterfrauen während der Periode der Diktatur des Proletariats kann nicht eine solche Gleichstellung sein, sondern sie muß in der zweckmäßigsten Verwendung der weiblichen Kräfte bestehen, und die Interessen der Frau als Mutter beschützen."

Die radikale Familienpolitik Kollontays ist also ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Damit wurde die Familienpolitik auch leichter angreifbar, wenn sie nicht mehr als ein Mittel zur "zweckmäßigsten Verwendung der weiblichen Kräfte" angesehen wurde. Und die Angriffe wurden schließlich auch vorgetragen. In den 20er Jahren hatte die Sowjetunion die vielleicht liberalste Ehe- und Abtreibungsgesetzgebung der Welt, schreibt Egil Fossum in seinem Buch Fra Stalins Sovjet. In den 30er Jahren gab es allmählich zunehmende Einschränkungen, und ab 1944 wurde in der Sowjetunion eine Familiengesetzgebung eingeführt, die vielleicht strenger war, als diejenige, die zur gleichen Zeit im Westen existierte. Die Familie wurde als Basis für die gesamte Gesellschaft betrachtet. Je stärker die Familie werden würde, desto stärker sollte die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit werden, so hieß es. Die Stärkung der Familie wurde auch eine Voraussetzung für eine höhere Geburtenrate. Die neuen Gesetze erschwerten Ehescheidungen. Im Gegensatz zu früher mußte ein Gericht aufgesucht werden, das ein Scheidungsurteil fällen mußte. Es war schwierig Recht zu bekommen, wenn man sich scheiden lassen wollte. Das kostete auch Geld. Für viele war das unerschwinglich. Die Abtreibungsgesetzgebung entwickelte sich in dieselbe Richtung. Bereits 1936 wurde die Abtreibung verboten. Kinder unverheirateter Mütter wurden schlechter gestellt als andere Kinder, wenn der Staat sich ihrer nicht angenommen hatte.

Ein anderer Ausdruck dieser angesprochenen Entwicklung ist die Einführung der Strafbarkeit von Homosexualität Mitte der 30er Jahre, nachdem die Strafbestimmungen zu Beginn der 20er Jahre aufgehoben worden waren.

Viele Frauen werden sich wohl schon von Kollontays Vision über die "Trennung der Küche von der Ehe" angezogen fühlen. Durch eine kollektive Organisierung der Hausarbeit gibt es viel zu gewinnen. Aber wie ist unsere Meinung hinsichtlich der Sozialisierung der Kindererziehung? Kollontays Vision von starken, frischen Müttern, die gebären und vielleicht stillen, und danach der Staat, der die Kinder übernimmt und ihnen eine Staatserziehung zu sozialistischen Mustermenschen angedeihen läßt, ist vielleicht nicht das, wovon wir träumen. Es ist auch nicht das, wovon ich träume. Mittlerweile haben wir wohl schon die Tendenz zu vergessen, wie weit die Sozialisierung der Kindererziehung heute gekommen ist. Die meisten norwegischen Kinder schlafen freilich Zuhause. Aber sie verbringen wahrscheinlich einen größeren Teil des Tages in öffentlichen Institutionen, wie Kindergarten, Schule, Freizeitgestaltung, als zusammen mit den Eltern. Dies bedeutet nicht, daß die Eltern nicht mehr so wichtig sind. Die Verarmung, die derzeit in den öffentlichen Sozialisierungsinstitutionen stattfindet, beinhaltet u.a., daß es noch wichtiger für die Chancen im weiteren Leben wird, was für Eltern sie haben: Wenn die Schule es sich nicht leisten kann, anständige Bücher anzuschaffen, müssen diejenigen Eltern, die es sich leisten können, dies stattdessen tun. Wenn die Lehrkräfte aufgrund sehr großer Klassen nicht die Zeit haben, den Kindern individuelle Aufmerksamkeit und Unterrichtung zukommen zu lassen, müssen diejenigen Eltern, die Zeit, Energieüberschuß und Wissen haben, dies stattdessen tun - als häusliche Privatlehrer. Wenn die Schule den Kindern keine allseitigen und variierenden Erlebnisse und Kulturerfahrungen vermitteln kann, müssen diejenigen Eltern, die die Kraft und das Interesse dafür besitzen, dies stattdessen tun. Wenn die nähere Wohnumgebung gefährlich und ungeeignet für sinnvolle Aktivitäten von Kindern ist, müssen diejenigen Eltern, die die Zeit haben und es sich leisten können, ihre Kinder stattdessen zu und von Freizeitangeboten transportieren, usw. usf. Eltern werden zur unschätzbaren Ressource im Kampf um Aufstieg und Weiterkommen, und die Polarisierung zwischen den Kindern wächst - zwischen denjenigen, die die richtige Sorte Eltern haben, und denjenigen, die dies nicht haben.

Daher bin ich irgendwie für die Vision von Kollontay, daß der Staat die Verantwortung für die Kindererziehung hat. Nicht in dem Sinne, daß die Kinder in riesigen Institutionen wohnen sollen und zur Not jeden Sonntag Besuch von ihren Eltern bekommen. Sondern in dem Sinne, daß es faktisch eine gemeinsame, gesellschaftliche Verantwortung ist, sowohl gute, vollwertige öffentliche Sozialisierungsinstitutionen als auch im übrigen gute Lebensbedingungen für Kinder zu schaffen. Heute ist es die Aufgabe der Familie, und insbesondere der Mutter, für alle Missetaten und Versäumnisse, die von der Gesellschaft an den Kindern begangen werden, aufzukommen, wä;hrend sie gleichzeitig die ganze Verantwortung zugewiesen bekommt, wenn das Resultat nicht so gut ausfällt. Karen Swift (1996) formuliert dies in einer Essay-Sammlung zur Geschichte des Kinderschutzes in den USA und Kanada folgendermaßen:

"Die Gesetzgebung bezeichnet nach wie vor die Familie als Kern des Problems. Die im Kinderschutz arbeitenden haben weiterhin kein wirkliches Mandat, mit sozialen und ökonomischen Bedingungen als ursächliche Faktoren zu arbeiten, wenn es um die Vernachlässigung der Fürsorgepflicht geht. /.../ Sozialarbeiter, die mit Vorgängen aus dem Bereich der Fürsorgevernachlässigung befaßt sind, zeichnen sich somit als kompetente Profis aus, nicht indem sie die Bedingungen, die Armut, Gewalt und Deprivation erzeugen, angehen und verändern, sondern indem sie Fehler und Mängel bei den Müttern identifizieren und kontrollieren."

Im Sozialismus sollen wir vielleicht nicht einen Kinderschutz haben, der in erster Linie die Mütter überwacht, sondern einen, der hauptsächlich Schulen, Kindergärten, Wohngebiete, Jugendpolitik, öffentliche Planung und Budgets einer genauen Prüfung unterzieht. Weil es dort ist, wo die Bedingungen für eine gute Kindheit geschaffen werden.

Vielleicht ist es auch an der Zeit, daß wir beginnen, Kinder auf eine etwas andere Art und Weise zu betrachten als wir es gewohnt sind.

Die norwegische Forscherin Turid Midjo (1997) spricht von zwei Kindheitsmodellen. Das erste ist das familienzentrierte Kindheitsmodell, das das Kind vor allem mit dem Ausgangspunkt in der Kernfamilie begreift. Das Kind wird als passiv und abhängig augefasst, es wird von guten oder schlechten Verhältnissen in dieser Familie geformt. Als ideale Kindheit wird diejenige angesehen, die sich in größtmöglichem Umfang innerhalb der Rahmen einer guten Familie abspielt. Das zweite ist das kinderzentrierte Modell, das seinen Ausgangspunkt im Kind als Individuum nimmt. Und dieses Individuum tritt in verschiedenen Arenen auf, wie Kindergarten, Schule, Freizeitaktivitäten, Freundeskreis, nicht nur innerhalb der Familie. Das Kind ist selbst aktiv daran beteiligt, sein eigenes Leben zu schaffen, im Wechselspiel zwischen vielen Arenen und Verhältnissen, die, getrennt durch Zeit und Raum, durch unterschiedliche Organisationsformen und Spielregeln geprägt sind. Kinder sind Persönlichkeiten mit eigenem Recht, nicht nur passive Resultate der Fürsorge der Erwachsenen.

In der Weiterentwicklung dieser letztgenannten Betrachtungsweise gegenüber Kindern, haben einige Forscherinnen und Forscher auch damit begonnen, die Aktivität des Kindes auf eine neue Art und Weise zu definieren.

Wer ist es z.B., der in der Schule arbeitet? Die klare Antwort lautet, daß die Lehrer arbeiten, während die Kinder bearbeitet werden. Aber ist das so sicher? Vielleicht verhält es sich so, daß die Arbeit der Kinder nicht als wirkliche Arbeit anerkannt wird, aber stattdessen als "natürliche Entwicklung" oder "geschult werden" maskiert wird (wobei die Erwachsenen für den aktiven Teil im Anlernprozeß stehen). Erinnert uns dies an irgend etwas? Ja, es läßt sich eine Parallele zwischen der Behandlung des gesellschaftlichen Wertes und Beitrages der Kinder und der Behandlung der Arbeit der Frauen erkennen. Die feministische Theorie hat die Auffassung in die Debatte eingebracht, wonach die reproduktive Arbeit der Frauen (die u.a. darin besteht, die Arbeitskraft der Erwachsenen von Tag zu Tag wiederherzustellen, und einen Beitrag zum Heranwachsen einer neuen Generation brauchbarer Arbeitskräfte zu erbringen) eine Art Nebenprodukt der "natürlichen" Fraulichkeit sei. Indem diese Aktivitäten "Arbeit" genannt werden, unabhängig davon, ob sie bezahlt werden oder nicht, werden die aktiven Handlungen und die soziale Bedeutung der Reproduktionsarbeit der Frauen unterstrichen.

Definitionen und Perspektiven sind nicht nur von akademischem Interesse. Wird die Tätigkeit der Frauen zu Hause als Arbeit definiert, entstehen eine Reihe von Fragen: Ist es gerecht, daß die Frauen den größten Teil der Arbeit ausführen sollen, die nicht entlohnt wird, während die Männer den größten Teil der entlohnten Arbeit ausführen sollen? Ist es gerecht, daß Frauen, selbst wenn sie in Lohnarbeit stehen, auch die Hauptverantwortung für die unbezahlte Arbeit haben sollen - "Doppelarbeitende" sein sollen? Ist es gerecht, daß unbezahlte Arbeit wesentlich schlechtere Rentenansprüche ergeben soll als bezahlte Arbeit? Mit neuen Perspektiven ergeben sich neue Fragen hinsichtlich der Verteilung von Macht und Ressourcen in der Gesellschaft.

In die Diskussionen über die Art und Weise der Ausgestaltung der Reproduktionsarbeit in der sozialistischen Gesellschaft müssen auch die Kinder als aktive und gestaltende Teilnehmer und Personen mit eigenem Recht einfließen, nicht nur als Rohmaterial, das die Erwachsenen bearbeiten sollen. Wir müssen diskutieren, wie der Beitrag der Kinder gesellschaftlich anerkannt werden kann, wie die Kinder eine Stimme in gesellschaftlicher Debatte und Prozeß erhalten können, wie sie Einfluß auf ihren eigenen Alltag und einen größeren Handlungsspielraum bekommen können.

Im Sozialismus wünsche ich mir also:

Wie dies konkret ausgestaltet werden soll, weiß ich natürlich nicht. Aber eine Diskussion entlang dieser Linien kann uns vielleicht eine Art Skizze einer Gesellschaft geben, mit mehr Gleichwertigkeit zwischen sowohl Frauen und Männern als auch Kindern, und größeren Entfaltungsmöglichkeiten und weniger schlechtem Gewissen für alle.

Zwei Arten von Feminismus

Es gibt selbstverständlich mehrere heutige Problembereiche, die in die Debatte über den Sozialismus einbezogen werden sollten. Anstelle darauf weiter einzugehen, habe ich Lust, einige andere Fragen aufzuwerfen, wo der Feminismus vielleicht zum Denken rund um den Sozialismus etwas beizutragen hat. Aber da muß auch gesagt werden, daß der Feminismus nicht etwas Eindeutiges ist. Es gibt viele Arten von Feminismus, und der Feminismus als Form des Denkens und als Bewegung trägt Widersprüche in sich. Ein ganz zentraler Widerspruch ist dieser:

Auf der einen Seite haben wir die Form des Feminismus, die unterstreicht, daß es die Frauenunterdrückung ist, die uns zu "Frauen" macht. Das, was wir als weiblich ansehen, ist das Resultat dessen, daß wir in die Rolle des anderen Geschlechts plaziert worden sind, als nicht restlos menschlich. Das Weibliche ist demnach nichts Erhabenes, um das sich gesammelt werden sollte. Die französische Feministin Colette Guillamin (1995) sagt z.B., daß das Streiten für das Recht auf ein Anderssein als die Männer, in keiner Weise notwendig ist. Das beinhaltet lediglich das Recht, für die Fortsetzung des Unterdrücktseins zu streiten, da es gerade eben die Unterdrückung ist, die uns anders macht. Ziel muß es daher sein, diese Weiblichkeit zu überschreiten, und ein wirklicher Mensch wie der Mann zu werden. Simone de Beauvoir ist die vorderste Repräsentantin dieser Richtung innerhalb des Feminismus.

Auf der anderen Seite haben wir die Form des Feminismus, die unterstreicht, daß die Frauenunterdrückung dazu führt, daß das Weibliche abgewertet wird. Das gilt sowohl unseren Werten, unserem Arbeitseinsatz und unseren Erfahrungen als auch unserer Denkweise. Ziel muß es sein, daß diese weiblichen Werte eine Aufwertung erfahren, daß unsere Gedanken und Erfahrungen als gültig gesehen werden, und das die Arbeit, die wir ausführen als wichtig anerkannt wird. Die Gesellschaft sollte in die Werte der Frauen Vertrauen setzen. Vandana Shiva (1989) kann als eine Repräsentantin dieser Richtung betrachtet werden.

Es fällt nicht schwer, bei beiden dieser Richtungen problematische Seiten zu erkennen. Die letzte, die sich darum dreht, weibliche Werte aufzuwerten, kann uns in die Nähe, sowohl der Gebärmuttermystik als auch der kontantstøtte bringen. Die andere kann zu einer unkritischen Glorifizierung äußerst zweifelhafter Seiten unserer Zivilisation führen. Ich glaube, daß es heute sowohl Frauen als auch Männern ziemlich schwerfallen wird, folgendes Zitat der Königin selbst, Simone de Beauvoir, zu schlucken:

"Aber zu Gebären und zu Stillen, sind ohnehin keine aktiven Willenshandlungen, sondern Körperfunktionen. Sie sind nicht an eine bestimmte Zielsetzung geknüpft, und daher findet die Frau keine Unterstützung für eine stolze Bestätigung ihrer Existenz in ihnen. Sie unterwirft sich passiv ihrem biologischen Schicksal. Die häuslichen Verrichtungen, das einzige, was mit der Last der Mutterschaft vereinbar ist, sperren sie in ein Leben von Wiederholung und Immanenz ein. Die gleichen Verrichtungen Tag für Tag, ja, im großen und ganzen gesehen setzt sich dies Jahrhundert für Jahrhundert fort, und es schafft nichts Neues. Im Falle des Mannes verhält es sich radikal anders. Er versorgt das Kollektiv nicht durch einen einfachen Lebensprozeß, vergleichbar dem einer Arbeitsbiene, sondern durch Handlungen, die ihn über seine tierischen Bedingungen erhaben machen. Der Homo faber ist bereits seit dem Ursprung der Zeit ein Erfinder. Der Stock und die Keule, mit denen er sich bewaffnet, um die Frucht von den Bäumen runterzuschlagen oder um Tiere zu töten, sind Werkzeuge, die ihm eine bessere Kontrolle der Umwelt ermöglichen. Er begnügt sich nicht damit, den Fisch, den er aus dem Meer gezogen hat, nach Hause zu führen, zuerst muß er sich zum Herren über das Wasser machen, indem er Baumstämme zu Kanus aushöhlt. Um sich die Reichtümer der Welt anzueignen, muß er selbige Welt annektieren. Indem er dies tut, wird er sich seiner Macht bewußt. Er setzt sich Ziele und findet Mittel, diese zu erreichen, d.h., indem er sich selbst verwirklicht, existiert er. Er schafft, um die Stellung zu halten. Er überblickt mehr als nur den Augenblick, er will die Zukunft öffnen. Daher haben Jagd- und Fischzüge einen heiligen Charakter. Geglückte Beutezüge werden mit Festen und Siegesumzügen gefeiert. Der Mann verschafft sich damit als Mensch Geltung. Diesen Stolz zeigt er auch heute, wenn er einen Staudamm gebaut hat, einen Wolkenkratzer oder ein Atomkraftwerk. Er hat nicht nur dafür gearbeitet, die existierende Welt zu erhalten, er hat die Grenzen gesprengt und die Grundlage für eine neue Zukunft gelegt.

Sein Wirken hat auch eine andere Dimension, was seine große Bedeutung weiter unterstreicht. Es ist nämlich oft mit Gefahren verbunden. Wenn Blut lediglich ein Nahrungsmittel gewesen wäre, wäre es nicht mehr wert als Milch gewesen. Aber der Jäger ist kein Schlachter, es ist gefährlich, sich auf einen Kampf mit wilden Tieren einzulassen. Um das Ansehen des Stammes oder des Clans zu erhöhen, setzt der Krieger sein eigenes Leben aufs Spiel. Und damit beweist er mit Nachdruck, daß nicht das Leben selbst das Wertvollste für den Menschen darstellt, sondern daß es dem Dienen von Zwecken gehört, die wichtiger als das Überleben sind.

Hier haben wir den Schlüssel für das ganze Rätsel. Auf dem biologischen Planeten kann eine Spezies nur dann überleben, indem sie sich erneuert, aber diese Erneuerung ist lediglich eine Wiederholung ein und desselben Lebens in verschiedenen Formen. Indem der Mensch sich über das Leben in Form seiner Existenz hinaus ausstreckt, sichert er die Wiederholung des Lebens. Durch das jenseits der Erfahrung, des Gegenständlichen Liegende, schafft der Mensch Werte, die der bloßen biologischen Wiederholung alle Werte entzieht."

Das andere Geschlecht wurde 1949 geschrieben. Seitdem ist der Glanz "jenseits der Erfahrung, des Gegenständlichen liegender" Staudämme, Wolkenkratzer und Atomkraftwerke in bedeutendem Umfang verblichen.

Ich glaube, daß die Verabsolutierung der Gegensätze zwischen diesen beiden Formen des Feminismus eine Sackgasse ist. Unterdrücktsein bedeutet, daß einem etwas weggenommen wird, daß man reduziert wird, in eine untergeordnete soziale Position gezwungen wird, und die Resultate dieser Position einem als persönliche, evtl. biologische Eigenschaften zugeschrieben werden, wie Simone de Beauvoirs Richtung darauf hinweist. Geschlecht ist ein soziales Verhältnis, nicht eine Eigenschaft. Wir sind für die Aufhebung dieses Verhältnisses, und in dem Sinne sind wir für die Aufhebung des Geschlechts.

Aber es verhält sich auch derart, daß notwendige Arbeit von Unterdrückten geleistet wird, daß reale Erfahrungen gesammelt werden, daß es Einsichten gibt, die lediglich aus einer Position gewonnen werden können, wie Vandana Shivas Richtung darauf hinweist. Wir haben keine Schwierigkeiten dies zu sehen, wenn es die unterdrückte Klasse, nämlich die Arbeiterklasse betrifft. In unserer Bewegung haben wir großes Gewicht darauf gelegt, alle Sachen vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu betrachten, wir haben überwiegend die, der unterdrückten Klasse innewohnenden positiven Züge unterstrichen, ja, z.T. die Arbeiterkultur romantisiert. Es fiel uns nicht ebenso leicht zu sehen, daß das Unterdrücktsein als Klasse auch das reduziert zu werden, in eine Position gezwungen zu werden, Entwicklungsmöglichkeiten beraubt zu sein, beinhaltet. Die Klassiker hatten freilich einen Blick für dies gehabt. Lenins respektlose Rede davon, daß die Ökonomisten "fortgesetzt auf den breiten Hintern der Arbeiterklasse starrten", und seine ketzerischen Behauptungen, daß die revolutionäre Theorie der Arbeiterklasse von außen zugeführt werden müsse, zeigen z.B., daß er auch die schwachen Seiten der unterdrückten Klasse sah, und nicht nur die starken. Aber spontan glaube ich, daß unsere Bewegung eine Tendenz gehabt hatte, sich Simone de Beauvoirs Blickwinkel auf die Frauen anzuschließen, und dem Gegenstück Vandana Shiva in ihrem Blickwinkel auf die Arbeiter, um es mal vereinfacht zu sagen.

Das Kollektiv und das Individuum

Ich bin der Überzeugung, daß wir beide Seiten berücksichtigen müssen, sowohl hinsichtlich der Klasse als auch des Geschlechts. Unser Ziel ist ja die Aufhebung sowohl der sozialen Verhältnisse, die einige zu Arbeitern macht, als auch der sozialen Verhältnisse, die einige zu Frauen macht. Da müssen wir die Resultate der Unterdrückung, das Reduzierte und das Verpfuschte, nicht romantisieren. Aber wir müssen auch nicht das Wertvolle, das in die Zukunft weisende, verschmähen. Oft hängen diese Seiten inzwischen dicht zusammen. So hat z.B. die Arbeiterklasse durch ihren Kampf das solidarische Kollektiv geschaffen. Dazu ist sie genötigt worden, als Verteidigung gegen einen mächtigen Klassengegner. Gleichzeitig hat dies die Grundlage geschaffen, auf der der Sozialismus beruhen muß. Aber vielleicht hat auch das solidarische Kollektiv seine Kehrseite, nämlich das, was Aksel Sandemose als janteloven bezeichnet hat: Du sollst nicht glauben, daß du etwas bist. [Jante, so der Name eines erdachteten Ortes in Aksel Sandemoses Roman Ein Flüchtling kreuzt seine Spur, und loven = das Gesetz; welches dort herrscht, und dessen erstes von zehn Geboten lautet: Du sollst nicht glauben, daß du etwas bist - d.Ü]

Wir sind gegen den bürgerlichen Individualismus und halten ihm die Solidarität der Arbeiterklasse entgegen. Und in der Tat war das Individuum von der bürgerlichen Revolution sozusagen erfunden worden. Der französische Forscher Donzelot (1980) erzählt, daß beim Sturm auf die Bastille während der Großen Französischen Revolution, sich unter den Befreiten eine Reihe Menschen befanden, die von ihren Vätern ins Gefängnis gesteckt worden waren, da sie in Gegensatz zur väterlichen Macht geraten waren. Die Väter hatten nämlich das Recht, ihre Kinder wegen Ungehorsams auf diese Weise zu bestrafen. Der Sturm auf die Bastille wurde dadurch ein symbolisches Bildnis des Angriffs auf das Patriarchat, auf eine Hierarchie mit dem unumschränkten König an der Spitze aller unumschränkten Kleinkönige in den Familien. Die bürgerliche Revolution drehte sich u.a. um eine Befreiung vom Patriarchat, von der Unterwerfung der Söhne unter die väterliche Machtbefugnis. Die "freien, gleichen" Individuen der liberalen Gesellschaft waren die erwachsenen Männer, die, befreit von der patriarchalischen Macht, untereinander eine gesellschaftliche Abmachung eingingen, ein "brüderliches Band".

Auch im absolutistischen Norwegen war der König der oberste Patriarch. Der Staat hatte keine Verbindung mit jedem einzelnen Untertan, sondern mit dem Familienoberhaupt, das die Verantwortung für die Erziehung und Ausbildung neuer Untertanen besaß. Auch die Häusler [Dorfbewohner, der ein kleines Haus ohne Land besitzt - d.Ü.] und die Dienstleute waren "dem Vater daselbst in der Wohnstube" unterworfen. Die Historikerin Sølvi Sogner (1990) beschreibt, wie das Patriarchat geschwächt wird, indem Häusler und Bedienstete, und nach und nach auch erwachsene Söhne, aus der Familienökonomie und dem Abhängigkeitsverhältnis zum Familienoberhaupt ausbrechen, wie sich neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnen. Im Kielwasser des ökonomischen Ausbruchs entstehen auch neue gesellschaftliche Rechte, wie das Stimmrecht. Sogner sieht also einen Zusammenhang zwischen einem ökonomischen "Befreiungsprozeß" von der Familie und dem Gewinnen bürgerlicher Rechte, ein unabhängiges Individuum zu werden.

Was die Frauen betrifft, hat es seine Zeit gedauert, die bürgerliche Revolution zu verwirklichen, wie wir wissen. Der Kampf, aus dem Schatten der Familie herauszukommen, ein selbständiges Individuum zu werden und nicht nur ein Anhängsel eines Mannes zu sein, findet fortgesetzt statt. Heute wird er u.a. im Zusammenhang mit dem Frauenlohn, der kontantstøtte und den Bedingungen für alleinerziehende Mütter vorgetragen. Aber der Kampf für das Recht ein Individuum zu sein handelt nicht nur von ökonomischer Selbständigkeit. Er handelt auch vom liberalen Ehrenbegriff Wahlfreiheit. Wirkliche Wahlfreiheit ist, wie wir wissen, eine Illusion für die Mehrzahl in einer Gesellschaft mit Klassen- und Frauenunterdrückung. Jedes mal, wenn die heutigen Politiker nach "Wahlfreiheit" rufen, beabsichtigen sie die Rechte der Mehrzahl anzugreifen. Aber dennoch - für Frauen ist der Kampf um Wahlfreiheit ein wichtiger Teil des Befreiungskampfes gewesen - das Recht darauf, zu wählen, wer wir sein wollen, unabhängig von festgefahrenen Vorstellungen über das, was weiblich und was männlich ist - ja, das Recht ein Individuum zu sein, nicht nur ein Exemplar in einer Kategorie.

Ich sehe es so, daß das Recht darauf, Individuen zu sein, mit Entfaltungsmöglichkeiten und wirklicher Wahl, ein befreiendes Ziel für alle Unterdrückten, sowohl für Arbeiter als auch für Frauen ist. Aber es kann leicht aus den Augen verloren werden, aufgrund der Anforderungen des kollektiven Kampfes. Daher gibt es Grund zu fragen: Hat auch das Frauenkollektiv sein jantelov? Die schwedische Forscherin Gerd Lindgren hat einen kleinen Artikel mit dem Titel "Rangordnung und Ritual" geschrieben. Sie beschreibt Begegnungen und Treffen als eine Arena, in der Männer Information über ihren Rang, und Bestätigung desselben in der Organisation erhalten können. Dabei ist nicht das Wichtige was gesagt wird, sondern auf welche Art und Weise dem begegnet wird. Je öfter andere Männer auf das Bezug nehmen, was man selbst gesagt hat, einen desto höheren Status nimmt man ein. Das Zusammenkommen ist also ein Ritual, auf dem Ränge zwischen Männern verteilt werden, und auf dem sich Veränderungen in der Rangordnung zeigen können. Frauen sind in diesem Spiel nicht vorgesehen.

Aber was ist mit den Frauen? Haben sie nicht ihre Rituale? Ja, sagt Gerd Lindgren, aber die Rituale der Frauen spielen sich nicht auf, sondern hinter der Bühne ab. Und sie handeln nicht von der Rangbestätigung, sondern von der Bestätigung der Gleichheit. Sie nennt ein Beispiel aus einem Krankenhaus: Die Frauen laufen im Hinterzimmer zusammen und erzählen sich gegenseitig Geschichten aus ihrem Familienleben. Wenn eine etwas erzählt hat, bekommt sie ein bestätigendes Lächeln, Gelächter und Nicken von den anderen. Es werden keine Fragezeichen hinter die gegenseitigen Erzählungen gesetzt, sondern man erkennt sich in dem Gesagten wieder, und meint, daß man selbst das gleiche getan hätte, und daß die Erzählerin Recht hat. Die Stimmung ist gemütlich und angenehm, und man fühlt sich hinterher beglückt und fröhlich. Eine Geschichte handelt vom Backen süßer Milchbrötchen [boller - d.Ü.] tagszuvor. Maria kam an diesem Tag früher nach Hause, und backte Zimtboller - zwei Platten. Als sie fertig war, ging sie eine lange Tour mit dem Hund. Zurückgekehrt, fand sie ihren Mann und ihre beiden Kinder im Teenageralter dabei vor, wie sie die Boller vor dem Mittagessen zu sich nahmen. Alle Frauen im Spülraum lachen, und stimmen mit ihr darüber ein, daß es gut war, daß sie noch mehr Zutaten übrig hatte, sodaß sie neue Boller backen konnte, sie waren nämlich für eine Party berechnet, die am Abend stattfinden sollte. Aber einem der jungen Mädchen bleibt das Lachen im Halse stecken. Sie fragt, ob es wirklich Maria war, die die neuen Boller hätte backen sollen. Das hätte wohl ihr Mann machen können, er wäre wohl erwachsen genug gewesen, um zu begreifen, daß die Boller für eine Party am Abend berechnet gewesen waren. Das frohe Bestätigungsritual wird gebrochen, und ein rascher Blick zur Uhr bringt die Frauen dazu den Spülraum zu verlassen. Dieses Ritual beinhaltet Informationen über den Ehevertrag in Marias Familie und den anderen. Der Vertrag wird von allen bestätigt, eine ausgenommen, die die anderen kränkt, indem sie ihm ein Fragezeichen anfügt. Die anderen sehen die erzählte Geschichte als eine Liebesgeschichte an, während das junge Mädchen sie als eine Geschichte über Frauenunterdrückung ansieht. Sie haben eine unterschiedliche Auffassung davon, was Frausein bedeuten soll. Das Gleichheitsritual betreffs der Weiblichkeit wird von dem jungen Mädchen gebrochen, und der Ausgrenzungsprozeß gegenüber der Abweichlerin kann beginnen.

In diesem Fall war es die frauenbewußte, die ausgestoßen wurde. Aber auch revolutionäre und frauenbewußte Frauen haben damit Probleme gehabt, Uneinigkeit und Anderssein auf eine Weise zu handhaben, die uns gestärkt, und nicht geschwächt hat, und das, obgleich wir das Recht der Frauen zum Ziel hatten, Individuen, sich selbst zu sein, und nicht lediglich Klone eines Frauenstereotyps.

Du sollst nicht anders sein, und du sollst nicht glauben, daß du etwas bist. Dies kann die Kehrseite sein, wenn das Kollektiv und die Solidarität eine große Bedeutung besitzen. Wir müssen uns davor gut hüten, das janteloven mit uns in den Sozialismus hinein zu nehmen, und es zu einer Tugend werden zu lassen. Das bedeutet keinesfalls, daß wir das Kollektiv und die Solidarität verschmähen sollten. Das Kollektiv und die Solidarität sind das Grundlegende, sowohl für unseren heutigen Kampf, als auch für die neue Gesellschaft. Aber wir müssen uns auch dessen erinnern, daß unser Ziel die Aufhebung der Beschränkungen ist, die die Klassen- und die Frauenunterdrückung unserer Entfaltung als einzigartige und ganz spezielle Individuen auferlegt.

Konkrete Menschen zu sehen

Wir müssen die Resultate der Unterdrückung, das Reduzierte und das Verpfuschte, nicht romantisieren. Aber wir müssen auch die Stärke und das Wertvolle bei den Unterdrückten sehen. In dem Buch Wilde Schwäne, das von drei Frauengenerationen in China handelt, erzählt die Verfasserin Ju Chung folgende Geschichte von ihren seinerzeit frischverheirateten Eltern: Beide waren Kommunisten. Der Vater hatte eine leitende Stellung, die Mutter befand sich in einer mehr untergeordneten Position. Unmittelbar nach dem Sieg über die Kuomintang wurden sie von einer Stadt in eine andere versetzt. Als führender Kader hatte der Vater das Recht auf einen Platz in einem Fahrzeug. Der Rang der Mutter gab ihr nicht derartige Rechte. Sie mußte unter äußerst strapaziösen Bedingungen viele Tage zu Fuß gehen, und ihr eigenes Gepäck auf dem Rücken tragen. Die Mutter zeigte dafür eine lange Zeit Groll gegenüber dem Vater. Einige der anderen leitenden, männlichen Kader hatten es nämlich derart geregelt, daß ihre Frauen zusammen mit ihnen Platz in einem Fahrzeug fanden.

Warum verhielt sich der Vater der Verfasserin so? Er war ein prinzipienfester und unbestechlicher Kommunist. In der alten chinesischen Gesellschaft waren Verwandschafts- und Freundschaftsverbindungen alles. Hattest du solche Verbindungen, war dein Glück gemacht. Eine solche Gesellschaft erzeugte das, was wir Kurruption und Vetternwirtschaft nennen. Die Kommunisten wollten für eine neue Gesellschaft stehen, aufgebaut auf anderen Prinzipien. Die Verteilung der Güter sollte nach anderen Kriterien geschehen, als nach Verwandt- und Freundschaft mit den Mächtigen. Nicht persönliche Verhältnisse, sondern universelle Regeln der Gerechtigkeit sollten gelten. Dies war der Referenzrahmen des Vaters. Er meinte, daß es wichtig sei, in der Praxis zu zeigen, daß die Kommunisten nach den neuen Prinzipien lebten. Daher ließ er die junge seinige Frau, sich zu Fuß durch die Suhlen abmühen. Sie hingegen deutete seine Handlungen ausgehend von einem anderen Referenzrahmen, nämlich des Liebesverhältnisses zwischen den beiden. Und von einem solchen Referenzrahmen aus, erschien seine Handlungsweise als Kälte und Mangel an Fürsorge.

Die Mutter in Wilde Schwäne dachte so, wie dies viele Frauen tun. Frauen sind beschäftigt mit persönlichen Bande, Zusammengehörigkeit, zwischen sich und anderen. Die Wahl ihrer Handlungen wird weitestgehend von den Konsequenzen für das Verhältnis zu konkreten anderen Menschen bestimmt. Sie fragen sich automatisch: Welche Auswirkungen wird das, was ich mache, für andere und für mein Verhältnis zu ihnen haben? Diese für Frauen charakteristische Art und Weise, sich zu etwas zu verhalten, die in der Frauenforschung "Fürsorgerationalität" oder "Beziehungsorientierung" genannt wird, entspringt der Aufgabe, die sie in der Gesellschaft gehabt haben und haben.

Es ist leicht, die Mängel einer engen Fürsorgerationalität zu sehen, die nicht mehr umfaßt als das, was traditionell als die Welt der Frau angesehen wurde, nämlich das Zuhause und die Familie. Aber es ist auch leicht, die Mängel von Prinzipien und Regeln zu sehen, die nicht in der Lage sind, konkrete Menschen zu sehen. Zwar benötigen wir wahrscheinlich Prinzipien, und die Fähigkeit, die großen Linien zu erkennen. Aber wenn es etwas gibt, das wir wirklich im Kampf für eine neue und bessere Gesellschaft benötigen, so ist es eine gut entwickelte Fähigkeit, konkrete Menschen zu sehen. Schauerlich viele Menschenschicksale sind zerstört worden, als die großen Pläne, Ideen und Prinzipien des Sozialismus durchgekämpft werden sollten. Häufig ist es freilich so gewesen, daß diejenigen, die den Versuch unternommen haben, den Sozialismus aufzubauen, sich in Situationen befanden, in denen die Konsequenzen jeglicher durchführbaren Wahl furchtbar gewesen wären. Aber es gibt auch Fälle, daß konkrete Menschen und ihr konkretes Leben tendenziell sehr klein und bedeutungslos wurden, neben den großen Plänen und Prinzipien. Und dies öffnete den Weg für furchtbare Übergriffe.

Vielleicht ist eine neue Art des Denkens im Entstehen begriffen? Die heutigen Frauen stehen mit einem Bein in jedem Lager. Indem sie berufsaktive Arbeiter geworden sind, sind sie auch direkte Teilnehmer im Klassenkampf, sie stehen mitten in den großen, gesellschaftlichen Widersprüchen zwischen den Klassen. Aber indem sie weiterhin zu Hause Fürsorgepersonen sind, sind sie auch von der Bedarfslogik und der Verantwortungsrationalität geprägt. Durch die Kombination mit der Klassensolidarität ist die Bedarfs- und die Verantwortungslogik im Begriff, eine gesellschaftliche Dimension zu erhalten. Und vielleicht ist es gerade diese Denkweise, die nach vorne weist, in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft.

Begriffe wie Klassenkampf und Klassenfeind stehen an zentraler Stelle der Terminologie des Sozialismus. Das sind Begriffe, die eine ungemein handfeste Wirklichkeit widerspiegeln. Die Arbeiterklasse und alle anderen Unterdrückten müssen den Kampf für ihre Interessen führen, kurzfristige und langfristige. In dem Kampf stehen sie einem Feind gegenüber. Das zu vergessen, dient lediglich jenen Kräften, die eine Verewigung von Ausbeutung und Unterdrückung wünschen. Gleichzeitig sind solche Begriffe dazu geeignet, einen Abstand zu schaffen, der es möglich machen kann, zu übersehen, daß auch Feinde Menschen sind. Dies ist ein sehr verbreiteter Mechanismus - indem Leute auf eine Art und Weise kategorisiert werden, die sie als völlig anders als wir selbst erscheinen läßt, wird es leichter, die gewöhnlichen Normen, wie Menschen behandelt werden sollten, zu durchbrechen. Dies war hinreichend auch in der Geschichte des Sozialismus geschehen, in Perioden, wo Bezeichnungen wie "Klassenfeind" und "Agent des Imperialismus" leichtfertig vorgenommen wurden, mit furchtbaren Ergebnissen. Es ist eine lebenswichtige Frage, auch für Revolutionäre, wie sich der Kampf führen läßt, ohne dabei weder tatsächliche noch eingebildete Feinde zu entmenschlichen.

Ein Gesellschaftssystem führt nicht sein eigenes, abstraktes Leben, es kommt in konkreten Menschen zum Ausdruck. Dies bedeutet, daß, wenn man den Klassenfeind bekämpfen will, dann muß man auch konkrete Menschen bekämpfen. Gleichzeitig ist es gefährlich jemanden zu einem Nichtmenschen zu reduzieren. Einige von euch haben vielleicht den phantastischen Roman Die Rebellion der Gehenkten des mystischen Autors B. Traven gelesen [in Deutschland übrigens 1980 als Werkausgabe in der gewerkschaftlichen Büchergilde Gutenberg erschienen - d.Ü]. Er handelt von der grausamen Unterdrückung der indianischen Arbeitssklaven auf den Plantagen Mexikos. Und er handelt von der gerechten Aufruhr der Indianer. In einer Szene des Buches schildert der Verfasser, wie die Indianer nach Hause zu den Aufsehern der Plantage ziehen, den Aufsehern, die sie Tag für Tag ausgehungert und mißhandelt hatten. Und was machen die Indianer? Ja, heißt es in der englischen Ausgabe: "They killed them and their litter". "Litter", das ist ein Wort, das gewöhnlicherweise für Tiere verwendet wird, ein Wurf von Katzenjungen, Schweinejungen oder was sonst noch damit gemeint sein könnte. Indem er dieses Wort verwendet, verwandelt Traven die Kinder der Aufseher in etwas Nichtmenschliches, und wir reagieren nicht so stark darauf, daß die Indianer nicht nur ihre Peiniger töten, sondern auch deren Kinder totschlagen.

Spontane Übergriffe dieser Art werden vorkommen müssen, wenn ausgehungerte und unterdrückte Leute sich in einer gerechten Wut gegen diejenigen erheben, die sie drangsalieren. Aber gerade deshalb ist es umso wichtiger, daß die revolutionäre Theorie, die Linie für den Kampf, in höchstmöglichem Grad gegenüber der Verunmenschlichung von Widersachern eine Barriere errichtet, anstatt die Tür einen Spaltbreit, oder im schlimmsten Falle angelweit offen stehen zu lassen.

Hat der Feminismus hierzu etwas beizutragen? Vielleicht hat er das. Ich möchte auf keine Weise behaupten, daß Feministinnen Männer niemals als mit nur wenigen menschlichen Zügen ausgestattete stereotype Monster dargestellt haben. Auch will ich nicht behaupten, daß ich selbst dies niemals gemacht habe. Aber aufgrund des Charakters der Frauenunterdrückung ist es schwieriger gewesen, alle Männer in eine Kategorie außerhalb der Menschheit zu plazieren. Wir mußten die Männermacht als System bekämpfen und in der Hinsicht, wie sie sich in konkreten Männern geäußert hat, während wir gleichzeitig mit Männern als Väter, Geliebte, Söhne, Arbeits- und Parteifreunde (zusammen-) gelebt haben. Aber es ist glücklicherweise unmöglich gewesen, männliche Menschen auf Männermacht zu reduzieren.

Es läßt sich in diesem Punkt keine direkte Parallele zwischen Klassenkampf und Frauenkampf ziehen. Dennoch glaube ich, daß sich aus dieser Erfahrung etwas lernen läßt. Menschen können in der Tat Klassenfeinde sein. Aber sie können nicht auf ausschließlich das reduziert werden. Und noch gefährlicher wird es, wenn selbiges Wort Klassenfeind zum Mittel wird, Leute zu etwas Nichtmenschlichem zu reduzieren, ungeachtet gegenüber wem diese Methode angewendet wird.

Frauen und Macht

Soll der Einfluß des Feminismus und der Frauenbewegung die Möglichkeit bekommen, die sozialistische Gesellschaft zu prägen, so muß Macht dahinterstehen. Und das ist eben keine einfache Frage. Feministische Forscher verwenden oft andere Machtbegriffe, als diejenigen, an die wir uns gewöhnt haben. Ein Beispiel ist eine Forschergruppe, die von der niederländischen Rosi Braidotti geleitet wird, und die im Auftrag der Vereinten Nationen ein Buch über Frauen, Umwelt und Entwicklung geschrieben hat. Deren Auffassung von Macht ist einem bekannten, französischen Soziologen namens Michel Foucault entlehnt worden. Er betrachtet Macht nicht als etwas, das von einigen Individuen, Institutionen, Klassen usw. besessen und gegenüber anderen ausgeübt wird. Macht ist überall, Bestandteil der Art und Weise, wie wir die Welt Definieren und in ihr agieren, derart, daß wir die ganze Zeit über selbst die Macht aufs neue erschaffen, wenn wir es nicht schaffen, mit diesen Vorstellungs- und Handlungsmustern zu brechen. Foucault operiert mit dem Begriff "Diskurs" - was eine Art Verständnis der Welt darstellt, das auch praktische soziale Konsequenzen nach sich zieht. Im "Diskurs" sind Macht und Wissen miteinander verwoben - die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu verstehen, bringt praktische Konsequenzen in Form von Machtausübung mit sich. Die westliche Wissenschaft ist ein derartig dominierender "Diskurs" - eine Machtsprache mit praktischen Folgen.

Daß bestimmte Machtverhältnisse Bestandteil unserer Denkweise, unseres Weltbildes sind, und das wir selbst dazu beitragen, sie aufs neue zu erschaffen, ist m.E. ein wichtiger politischer Punkt. Dieser Punkt unterstreicht die Tiefe der Unterdrückung, die Probleme damit, sich von ihr zu befreien, und die Gefahr, die Unterdrückung aufs neue zu erschaffen. Das ist ein Punkt, der nach meiner Auffassung in unserer Bewegung unterbewertet wird. Aber, wenn dieses Machtverständnis zum alleinherrschenden wird, wird es problematisch. Und das geschieht bei Braidotti und Co. Die Hauptaufgabe wird damit nicht der praktische Kampf, sondern der Bruch mit dem dominierenden Diskurs. Die Erfindung neuer, nicht-unterdrückender Diskurse wird zum Kern der Befreiungsstrategie.

Man kann den Eindruck bekommen, daß die Verfasser meinen, es sei möglich, sich zu einer neuen Welt durchzukritisieren. Doch oft nützt es leider nichts, lediglich mit einem neuen Diskurs bewaffnet zu sein, man benötigt auch Waffen. Ich selbst bekam z.B. folgende Geschichte erzählt, als ich vor 10 Jahren die Guerilla auf den Philippinen besuchte: Eine Gruppe von Menschen lebte vom Holzkohlebrennen. Die Phillipinen sind ein Land, in dem sehr viel Wald verwüstet, und die Umweltzerstörungen enorm sind. Die Guerilla diskutierte die Probleme, die mit dem Leben vom Abbrennen des Waldes mit Holzkohlebrennern verknüpft sind, und versuchte sie davon zu überzeugen, daß es sowohl für sie als auch für den Wald auf lange Sicht besser sei, wenn sie dazu übergingen, die Erde zu kultivieren. Aber sie besaßen kein Land, waren Besitzlose und mußten daher etwas von dem Land der großen Gutseigner okkupieren. Und die Guerilla mußte versprechen, ihr Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Der Kampf um den Umweltschutz spielt sich im Süden oft in einer derartigen Wirklichkeit ab. Macht ist auch etwas, das einige besitzen und gegenüber anderen ausüben, und die politische Linie muß Rücksicht darauf nehmen.

Aber die Macht sitzt auch in Strukturen, Institutionen, Organisationsformen, Konventionen und Denkweisen. Wenn es die Macht des Geschlechts betrifft, ist dies nicht immer so leicht zu erkennen, und es verändert sich auch ständig. Viele Frauenforscher sind sehr damit beschäftigt, daß die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern im heutigen Norwegen mehr verschleierte Formen annehmen, als dies früher der Fall war. Wir müssen damit rechnen, daß die Kunst des Verschleierns im Sozialismus keinesfalls vergessen sein wird!

Daß Fraueninteressen im Sozialismus Macht haben sollen, muß vermutlich viel mehr bedeuten, als daß Frauen in den bedeutsamen Steuerungsorganen reichlich repräsentiert sein müssen. Die Frauenforscherin Janneke Roos hat z.B. darauf hingewiesen, daß norwegische Frauen den Schritt in die Politik gemacht haben, ja, sie werden auch noch reinquotiert. Aber der Konflikt der Geschlechter und die Fraueninteressen haben keinen organisierten Ausdruck im staatlichen und kommunalen Leitungswesen, was dazu beiträgt, daß Frauenfragen leicht aus dem Blickfeld geraten, und gegen die herrschende Struktur durchgekämpft werden müssen. Auf der Regierungsebene ist die Gleichstellung z.B. in das Kinder- und Familienministerium eingebettet worden. Und es werden selten Fragen danach gestellt, in welcher Weise politische Beschlüsse auf die Situation der Frauen einwirken, es gibt keine organisierten Routinen dafür.

Organisationen sind das Geschlecht, sagen Frauenforscher heute, und meinen damit, daß die Organisationen einige unausgesprochene Regeln beinhalten, die dazu beitragen, die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern aufrechtzuerhalten. "Von Frauen und Leitung zu Geschlecht und Organisationen" heißt z.B. ein Buch von zwei Organisationssoziologinnen, Elin Kvande und Bente Rasmussen, die sich mit der Frauenperspektive beschäftigen. Mit dem Titel wollen sie zum Ausdruck bringen, daß man sich früher damit beschäftigt hat, was es Sonderbares mit den Frauen auf sich hatte, das dafür verantwortlich war, daß sie selten die Leitungspositionen erreichten, oder wenn sie es denn geschafft hatten, so müsse es auf eine völlig frauenspezifische, intuitive und fürsorgliche Weise vor sich gegangen sein, wie eine Art Gegenstück oder eine Atempause zur "normalen" Leitungsrolle. Aber, so sagen diese beiden, es ist vernünftiger danach zu fragen: Was hat es Merkwürdiges mit Organisationen auf sich, die es für Frauen "unnormal" machen, Leiterinnen zu sein? Vielleicht ist es einfach nicht so, daß Organisationen geschlechtsneutral sind, vielleicht sind sie in Wirklichkeit so eingerichtet, daß sie es als abgemacht ansehen, daß das "Normale" darin besteht, ein Mann zu sein.

Wenn Frauen und Fraueninteressen im Sozialismus einen Durchbruch erzielen sollen, dann müssen wir zum Angriff auf alle geschlechtlichen Strukturen diesen Typs antreten. Ohne dies werden wir keine grundlegende und tiefgreifende Revolution des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern bewirken. Und dann wird es lediglich eine neue Version einer alten Gesellschaft geben, nicht eine wirklich neue. Aber, liebe Schwestern und Genossen, so kleinlaut sind wir nicht!


Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Per K.Losch

Die abschließende Literaturliste wurde im Original belassen - Tschüss, d.Ü.


Litteratur: